Kandinsky_Impression



Farbenflächen in Schwarzweiß. Schattierungsberge. Vera lehnt sich an den senkrechten Weg an, den sie soeben folgte, sie beobachtet die Landschaft. Die Landschaft beobachtet sie. Blickennetz. Stille. Vera findet, sie hat zu wenig Kaffee gehabt heute Morgen. Sie würde gerne noch eine Tasse trinken. Lieber noch hätte sie eine Thermoskanne dabei. Sie ist verschlafen. Sie gähnt. Die Berge weichen ihrem Gähnen aus. Die Landschaften wechseln, als würde Vera wandern. Doch Vera bleibt still. Oder sie wandert doch, ohne es zu wissen, getragen vom Weg, den sie soeben folgte. Der Weg trägt Vera tiefer in die Landschaft hinein, bis es schwer wird, zu unterscheiden, was Vera war, was Weg, was Landschaft. Vera als Teil der Landschaft, die Landschaft als undenkbar ohne Vera, der Weg als Bindeglied, das allmählich verschwindet und zu Vera und zu Landschaft wird. Vera aufgelöst in der Landschaft, ihre Finger stilisierte Blumen, ihre Haare Windströme, ihre Augen die Augen des Berges. Veras Worte sind die Worte des Flusses, des schwarzen Grases, des windumhüllten Baumes.



ich bin müde, denkt Vera. Und einsam, denkt Vera weiter. Und verwirrt, denkt Vera weiter noch. Vera entschließt, sich einen Augenblick zu nehmen, um den Stand der Dinge zu betrachten. Die erste Beobachtung Veras ist, dass sie allem Anschein nach keinen Körper mehr besitzt. Zum Ergebnis kommt sie, indem sie versucht, ihre Augen zu schließen. Demnach merkt sie, dass ihre Augen sich nicht schließen lassen, oder vielmehr dass sie gar keine Augen hat, die sie schließen könnte. Die zweite Beobachtung Veras ist, dass ihre Körperteile in der Landschaft zerstreut sind, oder vielmehr dass ihre Körperteile mit der Landschaft verschmolzen sind. Zu diesem Ergebnis kommt Vera, indem sie lange eine Blume betrachtet, die ihr seltsam bekannt vorkommt, bis sie feststellt, dass die Blume die Form ihres Zeigefingers hat. An dieser Stelle muss Vera kurz Atem holen. Da sie aber auch keine Nase, keinen Mund und keine Lungen mehr besitzt, kann sie nur im übertragenen Sinne Atem holen. Als Vera im übertragenen Sinne Atem geholt hat, beginnt Vera nachzudenken. Vera stellt fest, dass sie weiterhin nachdenken kann. Vera stellt fest, dass sie weiterhin beobachten kann. Vera stellt fest, dass sie weiterhin sprechen kann. Die letzte Feststellung überprüft Vera, indem sie versucht, Hilfe zu rufen.

hilfe

Die Buchstaben des Wortes schweben in der vollkommenen Stille. Vera ist erleichtert. Vera stellt zusätzlich fest, dass sie nicht weiß, wie sie ihren Körper wieder zusammenstellen soll. Vera ist nun weniger erleichtert. Vera entschließt, mit dem Nachdenken aufzuhören und zur Betrachtung zurückzukehren. Die dritte Beobachtung Veras ist, dass eine Figur sich zu nähern scheint. Obwohl Abstand in zweidimensionalen Verhältnissen schwer einzuschätzen ist, ist sich Vera ziemlich sicher, dass irgendetwas oder irgendjemand näher kommt. Voller Hoffnung spricht also Vera weiter.

hilfe

Während Vera auf die Figur wartet, die immer näher kommt, oder besser gesagt, die immer größer wird, hat Vera die Zeit, eine letzte Feststellung zu formulieren: Man sollte nicht in abstrakten Bildern spazieren gehen, wenn man nicht genügend Kaffee getrunken hat. Oder man sollte sich eine Thermoskanne mitbringen.