- SZ - Erinnerungen an Moria_3 - Auschwitz kein Ende
Ein Kleinkind ist ertrunken vor der
Küste von Lesbos,
Lese ich, angehängt das Bild eines
leeren, zerrissenen
Schlauchbootes, Himmel und Meer und
Strand und
Plastik des halb noch heilen Bootes
sind blaugrau,
Es kann aber an der Nachbearbeitung des
Fotos
Liegen, objektiv gesehen ein
ästhetisches Bild,
Wäre es ein Gemälde welchen Titel hätte
es,
Etwas Deskriptives und nicht allzu
Lyrisches,
Eine Provokation vielleicht, WILLKOMMEN
NACH EUROPA oder kürzer, prägnanter,
Nur: EUROPA, die die verstehen wollen
Werden schon verstehen, das Problem
sind
Die anderen, die die nicht verstehen
wollen,
Schon stelle ich mir die Gespräche im
Museum
Vor, ja, es ist eine Schande, diese
armen Menschen,
Das sind doch Menschen, und Europa
macht wieder
Nichts, naja, wegen des Ostens, Polen
und Ungarn,
Tschechien und Slowakei und so weiter,
wir haben
Ja auch unseren Osten, wir wissen, wie
das ist, das
Sollst du deinem Onkel zeigen,
vielleicht versteht
Er es dann, der versteht gar nichts
mehr, zu alt, um
Seine Meinung noch zu ändern, sag mal,
wo hast
Du den Sekt her, mein Ekel ist
grenzenlos, gefüttert
Vom Bewusstsein, ich würde auch nicht
viel mehr
Sagen können vor solch einem Bild,
obwohl ich
Keine Bösen zu machen versuche aus den
anderen,
Aus denjenigen, die nicht verstehen
wollen, die
Zufälligerweise meine Landesgenossen
sind, denn
Aus ihnen Bösen zu machen würde mich
automatisch
Zu den Guten befördern und ich fühle
mich nicht gut.
Seit fünf Jahren und länger noch sind
die Bilder immer
Dieselben, sie tragen keinen Datum,
kein Zeichen der
Fortlaufenden Zeit, wie könnten sie
auch, die Zeit ist
Stehen geblieben, die Gegenwart ist der
Vergangenheit
Gleich und so wie es aussieht auch der
Zukunft, die
Augen sind daran gewöhnt, bleiben
trocken, die Bilder
Greifen nicht mehr, schweben in der
zeitlosen Spanne
Zwischen einem Tod und dem Nächsten,
einer Nachricht
Und der Nächsten, einem Treffen der
Staatsoberhäupter in
Berlin und einem in Istanbul, wer soll
daraus eine Tragödie
Stricken, wenn Jammer und Schauder
entfallen, verdammte
Postdramatik, lässt mich allein mit
diesen Bildern und keine
Verwendung dafür, Kunst ist nicht die
Rettung, ist sie nie
Gewesen, Bilder bleiben Ansammlungen an
Pixel ohne
Bedeutung, wartend auf ihre Auflösung
durch Scrollen
Oder Aktualisierung der Seite, sie
verschwinden, haften
Nicht, auch in meiner Erinnerung nicht,
werden jährlich
Ersetzt durch neue Bilder, die dasselbe
besagen: Nichts.
Was interessieren mich die Bilder, die
kenne ich schon,
Seit fünf Jahren und länger noch
sammele ich sie, speichere
Sie in Unterordnern von Unterordnern
auf meinen Rechner,
Die den Titel tragen: MATERIAL und seit
ihrer Erstellung
Nicht geöffnet wurden oder verstecken
sich unter Links in
Einem Dokument ebenfalls genannt
MATERIAL, wer weiß
Ob die Links überhaupt noch irgendwohin
führen, oder drucke
Ich sie aus und sehe zu, wie sie vom
Staub bedeckt werden und
Vergilben, selbst in mir trage ich
Bilder, die ich zu beschreiben
Versuche und immer, immer scheitere,
nun ist der Speicherplatz
Voll, ich kann in mir kein Leid mehr
tragen, was interessieren
Mich die neuen Toten, wenn ich die
alten noch nicht begraben
Habe, Ihre entstellte Körper und
Geschichten liegen aufgestapelt
Auf dem Boden meines Zimmers, langsam
beginnen sie, zu stinken.
Das Anfangsbild ist zugleich das
Endbild, das Bild, wonach
Kein Bild mehr sein kann, oder anders,
das letzte Bild, das
Das Letzte ist, weil es unmöglich ist,
unmöglich in dem Sinne,
Dass es von keinen Augen getragen
werden kann, unerträglich,
Wie der Geruch, der das Bild begleitet,
es ist gut, dass ich
Das Bild nicht fassen kann, weil wenn
ich es fassen könnte,
Dann würde es alles überschatten, alle
weitere Bilder, ich
Würde nichts mehr sehen können, nichts
außer das letzte
Bild, deshalb ist es das Letzte, das Bild,
das ich nicht sehe:
Es ist dunkel geworden, die Straße, die
den Wald aus Zelten
Vom offiziellen Lager in Moria trennt,
ist leer, hinter mir
In den Zelten flackern die Lichter der
Smartphones auf,
Vor mir ein Laternenpfahl, der kaltes
Licht auf die Straße
Wirft und über den Zaun zum Lager. Das
Lager. Hier liegt
Es vor mir, still, undurchdringlich.
Seit Tagen versuche ich
Zu erspüren, was ich vor dem Lager
fühle, aber ich fühle
Nichts. Nur die Kälte ein wenig. Sonst
Nichts. Es sind
Wellblechwände und Plastikplanen,
dazwischen enge
Gänge, das Gehege, wo die Essensausgabe
ist bei Tag,
Es sind Schmutz, Plastiksäcke, Pfützen,
das Übliche. Was
Soll ich bei dieser Ansammlung an
morsches Baumaterial
Empfinden. Es sind Menschen darin, ja.
Viele. Menschen,
Die sterben. Tun wir doch alle. Ein
paar Toten mehr gibt es
Nach jedem Augenschlag, warum soll
ausgerechnet hier der
Tod seine Arbeit aussetzen. Er könnte
verhindert werden. Ja,
Möglich, aber nicht von mir, ich bin
kein Arzt. Und ich kann
Nicht rein. Und nicht Mal Erste Hilfe
kann ich leisten. Also
Kann ich in dieser Hinsicht nicht
helfen. Und es geht nicht
Darum. Es geht nicht um den Tod. Es
geht auch nicht darum,
Woraus dieses Labyrinth besteht. Es
geht darum, dass ich
Hier stehe seit Tagen und nicht verstehe,
was ich fühlen soll,
Trotzdem aber bleibe ich angewurzelt
und starre den Zaun an.
Warum. Was hat er mir zu sagen. Das ist
nicht von mir, ich
Habe es irgendwo gelesen, gehört, ich
weiß nicht mehr, aber
Ich muss jetzt daran denken, sind die
Löcher eigentlich Teil
Des Zauns oder nicht. Im Grunde machen
sie den Zaun ja aus,
Aber sie sind Löcher, also Nichts, wie
kann Nichts doch etwas
Ausmachen. Was ist ein Loch. Hier kommt
man ganz ins
Philosophische. Sind die Ränder des
Lochs noch Teil des
Lochs. Das wäre doch ein Widerspruch.
Rand ist eben Rand,
Während Loch Loch ist, also Nichts.
Also kann das Loch auch
Kein Teil des Zauns sein. Und doch ist
es keine Wand, weil
Die nämliche keine Löcher hat. Da kommt
man nicht raus. Weil
Die Löcher nämlich klein sind. Wenn sie
groß wären, dann
Wären sie Türen, aber dann wäre das
auch kein Zaun, sondern
Eine Wand mit Türen oder Fenstern.
Gehört eine Tür zur Wand.
Jetzt schweife ich ab. Zurück zu den
Löchern. Ich schaue die Löcher
An. Geht das. Kann ich ein Loch einfach
anschauen. Selbst wenn es
Nichts ist. Aber ich schaue es an, ich
sehe nicht, was dahinter ist,
Dahinter ist nichts, Wellblechwände und
Plastikplanen, die keine
Löcher haben hoffentlich, sonst regnet
es rein, nein, ich schaue
Nicht in den Loch, über den Loch
hinaus, ich schaue das Loch an.
Das Nichts. Das Nichts, was diese
Menschenleben wert sind und
Das Nichts, was ich tun kann, um ihnen
zu helfen, außer schreien,
Das Nichts, was mein Schreien bringt,
seit fünf Jahren schreie ich,
Das Nichts, was sich seit fünf Jahren
geändert hat, und noch schlimmer,
Das Nichts, was unternommen wird, um
dieses Nichts zu ändern. Das
Schaue ich an und spüre nichts, weil es
nichts gibt. Nichts. Meine Augen
Erfüllt von Nichts, Löcher gleich,
dieses Nichts versuche ich zu beschreiben
Seit fünf Jahren und seit fünf Jahren
scheitere ich, weil Nichts nicht
Beschreibbar ist außer mit dem Wort
Nichts, was aber dem Grauen
Dieses Nichts nicht gerecht wird, das
Anfangs- und Endbild.
WIE ICH STARR UND HEISER WARD VOR
GRAUEN
DARÜBER SCHWEIGT O LESER MEIN BERICHT
DENN KEINER SPRACHE LÄSST SICH DIES
VERTRAUEN
NICHT STARB ICH HIER AUCH LEBEN BLIEB
ICH NICHT
NUN DENKE WAS DEM ZUSTAND DESSEN
GLEICHE
DEM TOD UND LEBEN ALLZUGLEICH GEBRICHT.
Wir haben von Auschwitz gelernt. Wie
man’s macht.