- SZ - Erinnerungen an Moria_1 - Nach und während der Lektüre von Enzensbergers Untergang der Titanic



Und ich wünschte es wär vorbei. Endlich. Vorbei.
Damit ich mich nicht mehr beschäftigen muss
Mit diesem Leid. Nicht übersetzbar auf dem Papier,
Mit meiner Stimme nicht. In diesem Raum nicht, der
Trotz der Zerstörung noch schmerzhaft konkret ist.
Die Wände sind Wände und wenn ich den Kopf
Dagegen schlage zerbricht der Kopf zuerst. Oder nicht.

Es ist ein Ich, das sprechen will.
Ein Ich, das die Worte nicht findet.
Ein Ich, das den Mund aufmacht
Und schreit. Das Ich ist stumm.
Das Ich nimmt die eigene Stummheit
Wahr und schreit lauter. Sein Schrei
Ist kein Schrei, sondern Wille zum Schrei.

Bis das Ich müde wird. Müde des
Schreiens sowie des Schreien-Wollens.
Müde des aufrechten Ganges, der
Himmel wiegt schwer. Das Ich legt
Sich hin. Das Ich schläft. Das Ich
Träumt. Das Ich rettet Glasmurmeln, die
Dem Abgrund zu rollen. Das Ich wacht auf.

Es schreibt einen Satz in die Luft
Aus dem Buch, das es in der Hand
Gehalten hat im Schlaf und noch hält.
ZWAR DIE ABBILDUNG EINES
RETTUNGSBOOTS RETTET KEINEN DER
UNTERSCHIED ZWISCHEN SCHWIMMWESTE
UND WORT SCHWIMMWESTE IST LEBEN oder TOD.

Seid jetzt still. Alle. Still. Was geht mich
Das Wort an, das ich nicht aussprechen kann.
Das Wort, das ich nicht höre. Das ich nicht
Sehe durch die Grenzzäune. Was geht mich
Der Tod an, wenn ich lebe. Das Ich bin ich,
Das schreien will und nicht kann, das Ich, das
Müde ist des Schrein-Wollens und schreien muss.
           
Wenn das Wort nicht rettet, kann es die Stille tun.

Philosophiere nicht rum. Jedes Wort ist Absage
Eines anderen Wortes, in diesem Sinne ist Sprache
Zutiefst neoliberal. Ich spreche nicht. Ich fresse
Die Sprache auf.
                                   DER UNTERSCHIED
ZWISCHEN LEBEN UND TOD ist das Wort.
                                                                      
Nicht für mich. Für mich: Zwischen will und muss.
Ich will nicht sprechen, ich kann nicht sprechen, ich
Muss aber. Ich muss. Damit es nicht vergessen wird.
Damit ich es endlich vergessen kann. Also schlage ich
Den Kopf gegen die Wand bis die Wand zerbricht oder
Der Kopf, bis mein Wille sich ändert oder die Welt.
Haltet mich nicht zurück.
                                               Wie du willst.
                                                                       Ich
Will nicht. Ich muss. Es ist ein Ich in mir, das will
Vielleicht, das Ich bin ich aber nicht, ich bin das
Schreiende Ich, das stumme Ich, das müde Ich
Bin ich, das Ich, das an seiner Auslöschung arbeitet
Mit jedem unhörbaren, geschrienen Wort, das Ich,
Das liegt, weil der Himmel wieder zu schwer ist.
Das Ich, das träumt. Die Glasmurmeln dürfen nicht
In den Abgrund fallen, sonst ist das Spiel aus.

Ein Spiel.
                        Was.
                                   Willst du spielen.
DAS KIND zeigt mir drei Glasmurmeln, die
Es in der Hand hält.
                                   Wie.
                                               DAS KIND
Gräbt mit dem Finger drei Löcher in der nassen
Erde.
            So.
                        DAS KIND wirft eine Murmel,
Sie rollt und verschwindet im Loch.
                                                           Willst du.
DAS KIND gibt mir eine Murmel. Ich werfe. Zu
Weit.
            Vorsicht. Sie fällt sonst in die Pfütze.
                                                                       Es
Hat geregnet gestern oder heute oder über Nacht
Vielleicht, vielleicht hat es nicht geregnet, die
Pfützen sind allgegenwärtig, unvergänglich, daraus
Lassen sich keine Änderungen der Wetterlage
Schließen, schon lange nicht. Sie sind Bestandteil
Der Landschaft wie die dürren Bäume, die blauen
Zelte, die graue Farbe des Himmels, des Schlammes,
Des Lebens hier im Erstaufnahmelager Moria auf
Lesbos, Griechenland, im März zweizwanzig.
                                                                       Hier.
DAS KIND hat die Murmel herausgefischt aus der
Pfütze, wo sie gelandet war nach meinem ungeschickten
Wurf, hat sie getrocknet mit dem Rand seines Hemdes
Und reicht sie mir wieder jetzt mit etwas Ungeduld.
Lieber nicht.
                        DAS KIND steckt die Murmeln in
Die Hosentasche, kurz ist es enttäuscht, es schaut wieder
Hoch zu mir dann und lächelt.
                                               Wie geht es dir.
                                                                       Gut,
Lüge ich.
Ganz gut. Und dir.
                                                           DAS KIND
Lächelt, es wird gerufen zu einem anderen Spiel von
Anderen Kindern, grüßt mit der Hand und entfernt sich,
Halb rennend, mit schwach geballten Fäuste, wie Kinder
Es eben tun.
                       
Die Schule ist zu, weil die Lehrerin
Nicht hierher kann. Auf der Straße zum Lager halten
Bewaffnete Gruppen Wache, sie lassen niemand rein,
niemand raus. Sie haben uns eingekesselt, ein paar
Tage schon. Ich wurde auch verprügelt, habe mich
Trotzdem hereingeschmuggelt, um den Menschen
Zu helfen, aber ich kann verstehen, dass die anderen
Sich nicht trauen. Sie haben Schlagstöcke, schmeißen
Steine nach uns.
Wer sind sie. Militär.
                                   Nein. Bewohner
Der Insel. Erst haben sie gegen die Regierung protestiert,
Weil sie ein neues Lager bauen wollte bis zum Sommer.
Jetzt greifen sie die Schutzsuchenden und die Helferinnen
An. Viele NGOs mussten die Arbeit einstellen und die
Insel verlassen aus Sicherheitsgründen.
                                                           Und die Polizei.
Die Polizei ist mit den Landungen überfordert genug.
Komm.
            Ich folge der JUNGEN HELFERIN durch
Olivenbäume, Müllsäcke, Zelte, morsche Holzpaletten.
Kleine Gruppen versammeln sich um den Rauch der
Feuerstellen.
                        Heute ist es nicht zu kalt, das ist gut,
Sonst würden sie das Feuer gleich in den Zelten legen.
Viele sind am Kohlenmonoxid erstickt, nachts vor allem,
Im Schlaf.
                        Die JUNGE HELFERIN zeigt auf die
Kabel, die über uns hängen.
Früher gab es noch Strom.
Ab dem Winter ist es unmöglich geworden, neue Leitungen
Zu legen und die alten instand zu halten. Es gibt jetzt nur
Wenige Steckdosen in der Nähe des Zauns. Ein Handy zu
Laden ist hier eine Tagesaufgabe. Da.
Eine verwitterte
Straße, Berge von Müll, der Zaun. Dahinter sind Container
Sichtbar.
                        Das ist das offizielle Lager. Wir dürfen da
Nicht rein. Es ist für dreitausend Menschen ausgelegt. Als
Es voll wurde begannen die Menschen sich hier auf den
Olivenfeldern niederzulassen. Manche warten schon seit
Jahren.
            Worauf warten sie.
                                               Auf das Interview. Das ist
Eine Erstaufnahmestelle, sie werden hier registriert, damit
Fängt ihr Asylverfahren an. Sie haben ein Interview mit den
Behörden, wenn sie es bestehen, dann bekommen sie einen
Pass nach Athen, zu einem anderen Lager, wo ihr Asylantrag
Geprüft wird.
                        Wenn sie nicht bestehen.
                                                           Dann werden sie
Abgeschoben in die Türkei.
                                               Wie viele Menschen sind hier
Überhaupt.
                        Zweiundzwanzigtausend. Im Oktober waren
Es noch dreizehntausend.
                                               Und wie viele Interviews
Gibt es am Tag.
                        Manchmal zwanzig. Manchmal weniger.
Die JUNGE HELFERIN winkt zwei Mädchen zu, die
Einen Eimer mit Wasser tragen. Die Mädchen lachen
Und winken zurück.
                                   Sechzig Prozent der Menschen
Hier sind minderjährig.
                                   Im Oktober waren es vierzig,
Das weiß ich, das habe ich damals gelesen. Im Oktober
War Moria in den Nachrichten wieder, wegen des Feuers
Am neunundzwanzigsten September. Es ist bis heute
Unklar, ob es sich um Kurzschluss handelte oder  um
Brandstiftung, jedenfalls kamen eine Mutter und
Ihr Kind ums Leben. Vor ein paar Tagen gab es wieder
Ein Feuer, diesmal gehen die Medien davon aus, es
Seien Rechtsradikale gewesen. Sie sind hierher gereist
Aus Deutschland, Schweiz, Schweden um die Griechen
Beim Schutz der Grenzen zu helfen. Freiwillige Helfer
Also, die andere Freiwillige vertreiben. Ideologische
Kämpfe nach dem Untergang der Ideologien, Besiegte
Auf beiden Seiten, Arme gegen Ärmste, wer gewinnt.

Bin hier geboren, aufgewachsen, hier will ich sterben.
Besitze ein Hotel seit fünfzehn Jahren, alle Zimmer
Blicken zum Meer. Die Geschäfte waren gut bis
Zweisechzehn, dann wurde Moria errichtet. Die
Touristen, vor allem die Deutschen, kommen nicht mehr.
Achtzig Prozent weniger Einnahmen von einem Sommer
Auf den anderen. Ich habe auch Familie. Drei Kinder, die
In Athen studieren. Wir können uns noch ein Lager nicht
Leisten. Wir leben jetzt schon im Verfall. Die Menschen
Müssen schneller abgeschoben werden oder weitergebracht,
Wenn hier ein neues Lager aufgemacht wird, werden noch
Mehr Menschen kommen und noch länger hier bleiben.
Das können wir uns nicht leisten, wir müssen auch ums
Überleben kämpfen.
                                   Die humanitäre Lage ist katastrophal
Und die Regierung will noch ein Lager öffnen, das geht nicht.
Die Menschen sollen nach Athen weitergebracht werden,
Angefangen bei den Kindern und den Kranken. Sie können
Hier nicht medizinisch versorgt werden, bis jetzt waren sie
Auf die Freiwilligen angewiesen, das kann aber kein
Dauerzustand sein. Die Regierung will die Flüchtende
Abschrecken, indem sie die Lager dem Verfall überlässt,
Das ist erstens unmenschlich, zweitens funktioniert das
Einfach nicht. Die Menschen werden weiterhin kommen.
Die Regierung soll sich um ein schnelleres Asylsystem
Kümmern, damit die Menschen, die hier eingesperrt sind,
Wieder mit Würde behandelt werden. Wir müssen sie retten.

Demo und Gegendemo zur selben Zeit am selben Ort
In derselben Demo. Linke und rechte Schreie, die
Aufeinanderprallen und dasselbe fordern während
Alle auf Leichen stampfen, die Lage ist nicht nur
Hoffnungslos, sondern auch furchtbar kompliziert.

Ich bin umgeben von Kindern plötzlich, es muss sich
Herumgesprochen haben, dass eine deutsche Journalistin
Da ist, sie wedeln mit ihren Papieren, sagen ihre Namen auf
Und
            Deutschland, Deutschland
                                                           Und weinen dabei
Oder lachen oder beide gelichzeitig, ich will weg, es ist
Zu viel, dann besinne ich mich und bleibe und weine oder
Lache oder beide gleichzeitig, alle wollen ihre Geschichte
Erzählen,
                        Papa Mama tot, alleine hier, Papa tot, Mama
Idlib, Bruder Deutschland, alleine hier, Mama Schwester
Tante Onkel alle tot, Papa krank gestorben im Meer, alleine
Hier,
            Variationen zum Thema, wenn ich doch Musikerin
Wäre, dann würden vielleicht diese Wörter weniger wiegen,
Sie erwarten Hilfe von mir und ich kann nichts tun außer
Aufschreiben, was sie sagen, nicht alles, nur, was mir
Übersetzt wird und hoffen, dass jemand das lesen wird
In Deutschland oder sonstwo, und dann, was dann, WAS
MUSS PASSIEREN DAMIT ENDLICH WAS PASSIERT
Und wie erkläre ich es den Kindern jetzt, meine Stimme
Stockt, ich werde im Restaurant essen in der Innenstadt
Und dann ins Flugzeug steigen nach Berlin, werde die
Fotos anschauen und die meisten löschen, damit der
Speicherplatz für ein neues Projekt frei wird, verschwinden
Werden die Gesichter, die Namen auf den Papieren, die
Ich jetzt fotografiere, während ich stumm verspreche, was
Ich nicht halten kann und weine und lache gleichzeitig mit
Den Kindern, die ich nie mehr sehen werde wahrscheinlich,
Außer sie steigen über die Grenzen um mich zu besuchen im Alptraum.

Die Schule ist niedergebrannt.
                                               Dann braucht die Lehrerin
Wohl nicht mehr zu kommen.
                                               Die JUNGE HELFERIN
Lacht nicht, lächelt nicht, nicht einmal aus Mitleid mit mir,
Der hilflos neben ihr steht und doch woanders ist. Mitleid
Braucht sie für andere, die es mehr brauchen als ich. Hilfe.
Alles hier schreit nach Hilfe, Augen, Bäume, Pfützen,
Hände. Doch Hilfe gibt es nicht. Im Himmel sind Risse
Aus Stacheldraht, die der Beschreibung nicht wert sind.

Ich habe gesehen, wie Hoffnung einen Körper verlässt. Es
Beginnt in den Augen, sie sind weit geöffnet und sehen
Nichts, ein Nichts was nah am Gesicht zu sein scheint oder
Unendlich weit. Der Kiefer ist gelockert, nur manchmal
Spannt er sich plötzlich an, als würde er schnappen, zubeißen,
Die Zunge zittert ein wenig, der Rachen öffnet sich wie
Beim Heulen oder Kotzen, als käme etwas hoch aus dem
Magen oder den Lungen. Die Schulter sind gekrümmt, der
Kopf gesenkt zur Brust, die Glieder schwer, die Beine weich,
Die Schritte schleppend, der Bauch aufgedunsen und leer. Der
Atem ist kurz, als wäre jeder Luftzug unerträglich, das Herz
Schlägt regelmäßig aber ein wenig lauter als sonst, jedes
Klopfen ist spürbar bis in den Schoß. Die Bewegungen
Folgen eine verinnerlichte Mechanik, die an jegliche
Intention mangelt, die Muskeln suchen den Weg des
Geringsten Widerstandes um den Körper weiterzutragen,
Gleichzeitig sind sie unschlüssig, als wäre ihre Schlaffheit
Von einer Überflutung an Impulse verursacht, die sie nur
Langsam und vereinzelt verarbeiten können. Der Körper
Ist müde, doch der Schlaf ist unruhig bei Tag und unmöglich
Nachts, das Erinnerungsvermögen wird Lückenhaft, die
Gedanken kreisen ununterbrochen um den kleinsten
Zwischenfällen, obwohl deren Bedeutungslosigkeit ihnen
Bewusst ist, trotzdem kreisen sie weiter, um sich nicht
Völlig zu verlieren, weil es die Leere gibt, die Leere,
Die anstelle der Hoffnung im Körper Platz nimmt. Es
Ist schwer zu sagen, wo diese Leere zu verorten sei, ob
Sie in der Magengrube, in der Brust oder doch im Kopf
Ist, es scheint aber als wäre sie gar nicht im Körper, sondern
Unter ihm, ein Abgrund, in dem jeder Schritt versinkt und
Die Gedanken auffrisst, die das Gleichgewicht verlieren
Oder zu weit geworfen wurden wie Glasmurmeln, die
In eine Pfütze fallen. Das passiert, wenn Hoffnung
Einen Körper verlässt. Ich habe es gesehen.