Wo Vera war_1
Vera mag Bahnhöfe. Vera hat Bahnhöfe schon immer gemocht. Sie
steht vor dem Burger King zwischen Gleis 11 und Gleis 12 in der Bahnhofshalle
in Hannover und sieht zu, wie die Menschen irgendwohin gehen. Das mag Vera
besonders an Bahnhöfen, dass die Menschen, die da sind, immer irgendwohin
gehen. Schlaftrunken im Labyrinth der Städte von Zug zu Bahnhof zu Stadt und
zurück, Hop Hop Hop, balkanische Tänze stärken die Füße, denkt Vera, und schaut
zu, wie Menschen, die aus unterschiedlichen Richtungen herkommen, in
unterschiedliche Richtungen gehen. Menschen, die singen und brüllen mit Bier
in der Hand. Menschen, die ihren Koffer schleppen wie Leichen ihrer Kindheit
und Menschen, die vom Koffer gezogen werden. Menschen, die zu Zweit am Gleis
stehen wie Eins und Menschen, die alleine vor der geschlossenen Ladentür
schlafen. So viele Menschen. Vera schaut zu und staunt vor der verwickelten
Schönheit der Lebenswege, die sich kreuzen und die auseinandergehen, jeder
Strich und Schritt so schmerzhaft und doch so bedeutungsvoll, obwohl keiner
weiß, wie am Ende das Bild aussehen wird, das wir eine Lebenszeit lang
zeichnen. Und das andere Bild, das Große, das sich stetig verändernde
Gesamtbild aller Menschen aller Zeiten, das wird in Ewigkeit von den Künstlern
ungesehen bleiben. Das macht Vera kurz traurig, doch dann denkt Vera, vielleicht
kann man doch alles sehen, vielleicht wird es im Augenblick vor oder im
Augenblick nach dem Tod passieren, ein Augenblick lang nur findet man sich
wieder und weiß, wofür alles war. Die Vorstellung gefällt Vera sehr. Sie schaut
zu, wie die Menschen um sie herum vor Schönheit strahlen, wie sei über den
Boden schweben, alle Menschen, tinker, tailor, soldier, sailor, rich man, poor
man, beggar man, thief, cowboy, policeman, jailer, engine driver, pirate chief,
oh it's such a lot of things there are and such a lot to be
that there's always lots of cherries on my little cherry tree.
Vera mag Bahnhöfe, weil ihre Gedanken so schön fließen, wenn sie
da steht und zuschaut.