Notiz_46 - Anglotzen Bis Sie Sich Heben
Heute auch. Heute auch.
Es schneit. Es scheint die Sonne.
Regenschirme wie Plastikflügel. Auf. Zu.
Hinter dem Fenster, also auf meiner Seite
Bleibt die Temperatur stetig, der Kaffe ist
Unterzuckert. Das Online-Wörterbuch
Funktioniert nicht. Ich entschuldige mich im Voraus.
Bist du fertig?
Die Worte gehören mir nicht mehr. Die Gesprochenen werden vom
Wind mitgenommen, die Verschwiegenen bleiben Rauchfäden, eingesperrt irgendwo
hinter meinen Augen. Ja, ich bin fertig. Ich habe noch nicht angefangen. Ich
bin fertig. Etwas lesen vielleicht. Das Gewicht des Papiers spüren. Eine
Sprache nachahmen, bis das Neue entsteht. Oder die Pflastersteine anglotzen bis
sie sich heben und diesem Nachmittag einen Zweck verleihen. Ich möchte auf die
Tastatur tippen und eine treue Darstellung meiner Gedanken anstreben, so:
ggrahuaskfajk afh areh aorppjq r i
llnawr ufnurrezate arljaskkfievh dbezrbb eofopgeqqwirwrweondsayhagezte gireop
nwngw weeoiwepj faijnf jfnnjw gwiongvalea fleaign quwepnvfeajjge rejkreu nnv
eiiwehd ajajsfj. Vielleicht entsteht daraus das Wort, das mich rettet.
Bist du fertig?
Ich brauche irgendetwas zu sagen. Diese Stummheit gleicht einer Belagerung.
Also begann die Belagerung der Stadt
München durch das feindliche Heer im Jahre zweitausendneunzehn. Die Tore der
alten Innenstadt, die noch standen, wurden versiegelt mit den Resten der evakuierten
Bürogebäude, die Tore aber, die durch die Jahre schon abgerissen worden waren,
mussten in großer Eile wiederhergestellt werden, nur damit sie auch geschlossen
werden konnten. Der Hauptbahnhof galt als neutrale Zone, da die Feinde eine
tiefe und unerklärliche Abneigung gegenüber Zuge hatten. In den Vorstädten
begannen die ersten Kämpfe. Nach dem ersten Jahr blieb aus der Millionenstadt
nur der Kern intakt, vom Karlstor bis zur Isar, vom Sendlinger Tor bis zum
Odeonsplatz, die restlichen Stadtteile wurden entweder von den Belagerern
erobert oder sie gründeten sich als unabhängigen und neutralen Nebenstädte neu.
Die Belagerer schienen an sie kein weiteres Interesse zu haben. Trotz der
schweren Beschädigungen von Straßen und Gebäuden, hielten sich die
Menschenverluste in Grenzen. Die Wucht der Kämpfer schien sich nur auf
Bürokomplexe und Wohnungshäuser zu entladen. Nach dem ersten Jahr brach eine
schwere Hungersnot aus, die die Wirte der Innenstadt zwang, die Preise zu
senken. Nach dem zweiten Jahr begannen die verbliebenen Münchener, die
Modeläden zu enteignen und mit Sozial- und Kulturzentren für die Jüngsten und
Ältesten zu ersetzen. Schon lange ereigneten sich keine Kämpfe mehr, die
Belagerung wurde aber trotzdem fortgesetzt, da das feindliche Heer sich
allmählich an dem Belagerungszustand gewohnt hatte. Tatsächlich lag im
Interesse der Nebenstädte, die Belagerer nicht weiterziehen zu lassen, da sie
ausgezeichnete Handelspartner waren. Die ehemalige Vorstadt blühte. Der alte
Kunstareal und die Insel des Deutschen Museums zählten zu den Hochburgen der
Kultur weltweit. Nach dem fünften Jahr hatte sich die Situation so weit
normalisiert, dass neben den noch versiegelten Tore kleine Öffnungen
entstanden. Ob sie aus der Initiative von den Münchenern oder von den Belagerern
zustande kamen, blieb unklar. Andererseits wurde auch mittlerweile schwerer,
die Belagerer von den Belagerten zu unterscheiden. Nach dem zehnten Jahr der
Belagerung wurde die Belagerung vergessen. Die Touristen betrachteten die
Mauern und die Tore, die schon lange nichts mehr trennten, als kuriose
architektonische Eigenart Süddeutschlands. Die Städteführer bekräftigten ihre
Annahme, da die Geschichtsschreiber verunsichert schwiegen. Im zwölften Jahr
wurde ein Teil der Mauer abgerissen, um einen Parkplatz zu bauen. Damit endete also die Belagerung der Stadt
München, aus der nur die Zeit als Sieger hervortrat. Allerdings kümmerte sich
die Zeit nicht sonderlich viel darum und sie fließ weiter.
Bist du fertig?
Ja. Was denkst du?
Es hagelt. Jetzt scheint die Sonne wieder.
Heute auch. Heute auch.
Ein grauer Hund steht verwirrt vor der Theke des Cafés. Ich
verstehe ihn, ich brauche auch furchtbar lange, um einen Kaffee zu bestellen.