- SZ - Erinnerungen an Moria_2 - Orpheus



Ich spüre meinen Körper nicht mehr, nicht
Die Wellen, nicht das Wasser auf meiner Haut,
Es ist mir nicht mehr kalt, was ungewohnt ist, mir
Ist es bis jetzt immer kalt gewesen. Über mir ist
Der Himmel gerissen, rote Wolkenstreifen ziehen
Sich durch meine Augen, auf den Lippen Salz
Wenn ich singe, aber ich weine nicht. Das Meer,
Worauf ich treibe, ist vielleicht gebaut aus Tränen,
So schmeckt es, wenn ich singe, doch die Tränen
Sind nicht die Meinen, nicht mehr. Sollen
Andere weinen dort am Ufer des Flusses
Bis die Dämme brechen, so wie ich auch
Geweint habe dort am Ufer des Flusses,
BEI DIESEM UNENDLICHEN CHAOS
HIER BEI DEN STÄTTEN DES GRAUNS
UND DER ÖDE DES WEITEN GEBIETS,
Als ich wartete, dass die Grenze sich öffnet.
Sie hat sich nicht geöffnet. Aber ich warte
Nicht mehr. Ich weine nicht mehr. Ich lasse
Mich treiben vom Fluss, der unter mir Meer
Geworden ist, reiße die Augen auf, um die
Roten Wolken darin aufzunehmen und singe. Wie
Damals in Syrien. Ich sang, als zweitausendelf
Die Revolution begann, denn eine Revolution
Ohne Gesang ist der Kampf nicht wert, ich sang,
Als aus der Revolution einen Krieg wurde, ich sang,
Als die Bomben fielen auf Aleppo, Damaskus, Idlib.
Acht Jahre lang sang ich ununterbrochen in zerstörten
Häusern, leeren Städten, Luftschutzbunker, ich sang
Und die Bomben verneigten sich vor meiner Stimme
Und ließen mich unversehrt. Doch nicht überallhin
Reichte mein Gesang. Als meine Eltern von ihrer
Schlafzimmerdecke begraben wurden, vom irdischen
Schlaf ins Ewige unmerklich übergehend, konnte
Meine Stimme sie nicht zurück ins Leben rufen,
Wollte nicht. Sollen sie ruhen, endlich, in Frieden.
HIERHER MÜSSEN WIR ALL UND DIES IST
DIE LETZTE BEHAUSUNG, das wusste ich,
Das wissen wir alle, dennoch wollen wir alle dem
Tod noch eine kleine Zeit abgewinnen. Ich floh.
Den anderen folgend, AUFWÄRTS STEIGEND
DURCH SCHWEIGENDE ÖDE DEN FUSSPFAD
SCHROFF VOLL DÜSTEREN GRAUNS UND
UMSTARRT VON FINSTEREM DUNKEL,
Weiter singend, leise, flüsternd, um mich vor
Den Gefahren des Weges zu schützen, erreichte
Ich die türkische Grenze und dort erschrak ich
Vor der großen Stille hinter mir, wo ich meine
Heimat wusste. Da konnte ich der Versuchung
Nicht widerstehen. SIE VERLANGEND ZU SEHN
UND BESORGT DASS KRAFT IHR GEBRECHE
SCHAUT ich LIEBEND mich UM UND ZURÜCK
GLEICH IST SIE GESUNKEN, meine Heimat, getötet
Zweimal: Einmal unter Bomben, chemischen Waffen,
Drohnenattacken, das zweite Mal durch die Stille, die sie
Umgibt. Nicht ihre Stille war es, die mich umdrehen ließ.
STARR VOR DEM ZWEIFACHEN TODE blieb
Ich sieben Tage im Lager an der Grenze,  meine
Stimme versagte und vermehrte das Schweigen.
Im Traum begegnete ich sie, meine Heimat, sah mich,
SEHNLICH DIE ARME GESTRECKT AUF DASS
Ich SIE FASSE UND SELBER WERDE GEFASST
HASCHT NICHTS DENN WEICHENDE LÜFTE
Meine Hand und ich erwache und kann nicht schreien.
ZÄHREN UND GRAM UND SCHMERZ DES
GEMÜTS NUR WAREN mir NAHRUNG in der
Türkei, als ich die Flucht fortsetzte. Mein Gesang
Aber ertönte wieder, damit bezahlte ich die Schleuser,
Die mich über die Grenzen und durch die Städte halfen,
Damit besänftigte ich die scharfen Hunde, die mich und
Die wie mich jagten. Ich kam in Istanbul an, dort ließ
Ich mich nieder und begann meinen kleinen Alltag
Wiederaufzubauen aus den Ruinen der Vergangenheit.
Ich arbeitete, sang, tanzte und lernte zum ersten Mal
DEM ZARTEN MÄNNERGESCHLECHT IN LIEBE
ZU NAHN und nie vorher war meine Stimme so lieblich.
Das Leben schmeckte wie Leben wieder, doch es dauerte
Nicht lange. SEHET SEHET IHN DORT DEN
VERÄCHTER DER FRAUEN, hörte ich sie rufen
Durch die fremden Straßen, den Rufen folgten
Gummigeschosse und Tränengas und Stöcke
Auf Rippen und Rücken am Tag des verbotenen
Gay Prides in Istanbul im Sommer zweineunzehn.
Doch die Wunden und blauen Flecken waren leicht
Zu ertragen, mein Gesang schützte mich vor den
Schlägen, nicht aber vor der Zurückweisung und
Dem Ekel. Ich entschloss, weiter zu fliehen. Ich
Hörte die Nachricht, die Grenzen sind offen und
Fuhr nach Edirne und von dort aus weiter zum Fluss
Evros an der Grenze zu Griechenland. Ich kam nachts an.
SANFT ANSTEIGEND ERHOB SICH EIN HÜGEL
UND ÜBER DEM HÜGEL DEHNTE SICH EBENES
FELD DAS GRÜNTE VOM ÜPPIGEN GRASWUCHS.
Ich war nicht alleine. Viele waren wir, aus demselben
Grund, derselben Nachricht folgend. Ich erkannte die
Gesichter und erkannte mich in ihren Gesichtern und
Sie erkannten mich. Auf deren Wunsch sang ich,
Um ihnen und mir die Tränen zu erleichtern.
SCHATTEN VERMISSTE DER ORT, doch,
Als mein Gesang ertönte in der kahlen Landschaft,
KAM BALD SCHATTEN DEM ORT. Um mich
Wuchsen die Bäume, die Blumen, die Berge, die
Syrische Sonne stieg empor und der uns bekannte
Himmel breitete sich aus, gerufen von meiner Stimme,
Straßen, Häuser, Paläste und Kirchen und Moscheen,
Die Städte der Kindheit, Aleppo, Damaskus, Idlib,
Bauten sich auf um mich und um uns, denn meine
Stimme kennt den geheimen Bauplan unserer Heimat.
Ich sang, sie hörten zu, so verbrachten wir die Nacht.
Am nächsten Morgen wachten wir im Krieg auf. Die
Türkische Polizei schob uns mit Rauchgranaten und
Gummigeschosse zum Grenzzaun über dem Fluss,
Hinter dem Zaun stand der europäische Grenzschutz
Aufgestellt und schob uns zurück mit Rauchgranaten und
Gummigeschosse und großen Ventilatoren, die Tränengas
In unserer Richtung bliesen. So bekämpften sich die zwei
Seiten mit uns in der Mitte. Sie trieben und zerrten uns,
Schossen auf uns, wir, abwechselnd Waffe und Schild,
Verwirrt vom Hunger und von der Kälte, schwankten
Hin und her, wie Tiere. Ich sang, doch mein Gesang
War zu schwach. ALL DIE GESCHOSSE GESAMT
WOHL WÄREN ERWEICHT VON DEM SANGE
ABER GEWALTIG GESCHREI UND GEKLATSCH
DRÖHNTEN DEM SEITENGETÖN ZU LAUT und
Ich fiel. Am Ufer des Flusses, der schwoll und wütete
WURDEN GERÖTET ENDLICH DIE STEINE
VOM BLUT DES NIMMER VERNOMMENEN.
Mein Mund formte noch Laute, die niemand hörte,
Außer dem Fluss selbst, der mich als einziger aufnahm.
Und ich wusste, das ist mein Ende, das Ende des Sängers,
DER FLEHEND DIE HÄND AUSSTRECKT UND
VERGEBLICHE WORTE DAMALS SAGTE ZUERST
UND NICHTS MIT DER STIMME BEWEGTE. Nein,
Nichts konnte meine Stimme gegen den Kampf an der
Grenze, weil der Kampf keine Sieger hervorbrachte, nur
Besiegte, doch die Besiegte waren wir, die nicht kämpften.
Und nichts konnte meine Stimme gegen das Schweigen,
Zweimal getötet wurde ich, wie meine Heimat vor mir,
Und kein Grab ist mir gestattet und kein zu begrabenden
Körper, HAUPT ABER UND LEIER FÄNGST DU
EVROS, Grenzfluss zwischen Leben und Tod, der
Selber Tod warst für mich. Du nimmst mich auf.
Nun treibe ich in diesem vergessenen Winkel des
Mittelmeers, ich spüre meinen Körper nicht mehr,
Nicht mehr weine ich, nicht mehr warte ich, ich
Singe nur, während ich die Ufer der Insel Lesbos
Erreiche, getragen von antiken Strömen, und höre
Andere Tränen und andere Stimmen, die meiner
Gleich sind und denselben Gesang anstimmen und
Wiewohl ich oder was von mir noch übrig ist Ruhe
Findet hier am Ufer des Strandes, ich werde singen,
Immer weiter werde ich singen von Syriens
blühenden Landschaften und von Grenzen
Und Kämpfen mit nur Besiegten und von
Liebe und Leiden werde ich singen und
Von Mauern und Zäunen und Hoffnungen,
um das Schweigen, das uns tötet, zu brechen,
Ich singe und immer weiter werde ich singen,
Bis mich irgendeine Gottheit endlich hört
Und aus den Höhen zu mir heruntersteigt
Und mir den Befehl zum Schweigen erteilt.